Stellungnahmen zu Ereignissen

Wir sind auch wütend, wir sind auch traurig, wir sind auch müde, wir stehen zusammen.

Statement der Jüdischen Gemeinde Kassel und des Sara Nussbaum Zentrums für Jüdisches Leben

Wir waren geduldig, offen für jedes Gespräch und bereit dazu, unsere Gefühle zugunsten der sachlichen Auseinandersetzung zurückzustellen. Doch seit dem 10. September ist eine Grenze überschritten.

Wir beschuldigen Euch, ruangrupa und das „artistic team“, Antisemitismus zuzulassen und nachhaltig zu befördern. Alles, was Ihr bisher zum Antisemitismus geäußert habt, war ein Lippenbekenntnis. Wir glauben Euch nicht mehr, wenn Ihr vom Zuhören und Lernen sprecht. Wir sind enttäuscht.

WIR UNTERSTÜTZEN DAS EXPERT*INNENGREMIUM

Wir beobachten die Entwicklungen auf der documenta fifteen mit großem Entsetzen. Es wurde ein Expert*innengremium eingesetzt, um Hinweisen auf eine mögliche antisemitische Bildsprache auf der Weltkunstausstellung nachzugehen, diese zu erfassen und zu analysieren. Dieses Expert*innengremium hat am 10. September Texte veröffentlicht, die für uns absolut nachvollziehbar, stringent und dem Gegenstand vollkommen angemessen sind.

Es ist gut und richtig, dass sich das Gremium nun endlich an die Öffentlichkeit gewendet hat, um auf den Umgang der documenta fifteen mit antisemitischen Vorfällen hinzuweisen, die einseitig negative Darstellung Israels, die mehrfach in offenen Antisemitismus umschlägt, zu thematisieren, sowie konkrete Handlungsempfehlungen zu formulieren.

EURE REAKTION IST SKANDALÖS

Die Antwort von Euch – ruangrupa, drei Personen des „artistic teams“ und zahlreichen Künstler*innen der documenta fifteen –, die ebenfalls am 10. September unter dem Titel: „We are angry, we are sad, we are tired, we are united: Letter from lumbung community“ im Netz veröffentlicht wurde, halten wir für skandalös und aufschlussreich zugleich.

Dass darin dem Expert*innengremium eine „rassistische Tendenz“ vorgeworfen wird und von einer „bösartigen Struktur der Zensur“ dahergeredet wird, ist grotesk und ungeheuerlich. Diese offenen Angriffe werden von den Autor*innen des Textes nicht mit Beispielen belegt. Zugleich heißt es darin weiter: „Die Frage ist nicht das Existenzrecht Israels; Die Frage ist, wie es existiert. Widerstand gegen den Staat Israel ist Widerstand gegen den Siedlerkolonialismus, der Apartheid, ethnische Säuberung und Besatzung als Formen der Unterdrückung einsetzt.“

ZUHÖREN: GESCHEITERT. LERNEN: GESCHEITERT. LUMBUNG: GESCHEITERT. DOCUMENTA: ?

Dass diese Worte eine Antwort auf einen Text sind, der das Vorführen von Terror-Propagandafilmen der Japanischen Roten Armee kritisiert, einer Organisation, die das Selbstmordattentat im Kampf gegen den jüdischen Staat etabliert hat und am 30. Mai 1972 das Massaker am Flughafen Lod verübt hatte, bei dem 26 Menschen ermordet und 80 weitere verletzt wurden, zeigt für uns auf, wie weit antisemitisches Gedankengut unter den Organisator*innen der documenta fifteen verbreitet ist.

All dies beweist ferner, dass es, anders als angekündigt, keinen reflektierenden Lernprozess gab, bei dem man sich mit der Kritik und den Beobachtungen auseinandersetzte. Stattdessen wird jede Analyse, selbst die eines Gremiums aus renommierten Wissenschaftler*innen, zurückgewiesen und per se als „rassistisch“ diffamiert. All dies beweist, dass das Prinzip eines offenen, den Menschen zugewandten Prinzips des „lumbung“ desaströs gescheitert ist. Was beweist dies für die documenta fifteen?

PLAKATIVER ANTISEMITISMUS IM HERZEN DER DOCUMENTA

Offensichtlich handelt es sich bei dem Text um Teil einer Kampagne, die sich nicht nur für die antisemitische Boykottkampagne BDS ausspricht. Sondern es handelt sich bei den Autor*innen auch um Personen, die sich als Aktivist*innen derselben verstehen. So befinden sich nun mitten im Herzen der Documenta, dem Fridericianum, Plakate mit Aufschriften wie zum Beispiel: „BDS: Being in Documenta is a Struggle“, „Free Palestine from German guilt“, oder „Nakba is a Part of Erinnerungskultur“. Mit solchen Aussagen wird das Gedenken an die Shoah, die Ermordung von über sechs Millionen europäischen Juden und Jüdinnen, in einer perversen Weise instrumentalisiert und der Antisemitismus zugleich als ein exklusiv deutsches Phänomen bagatellisiert. In den sozialen Medien gibt es weitere Plakate dieser Reihe zu sehen, in denen Israel unter anderem als Apartheidsstaat dämonisiert wird.

Wir müssen anerkennen: Es war subtil. Es wurde genickt, wenn jemand gesagt hat, dass es schlimm ist. Es wurde darauf gehofft, dass Positionen in der Vielfalt nicht auffallen, dass sie im Stimmengewirr der Sommerzeit verhallen. Es wurde spekuliert, dass andere, in der Politik, in der Gesellschaft, sich darüber streiten, wessen Köpfe rollen müssen oder tatsächlich rollen. Es wurden Opfer zu Tätern gemacht, Argumente umgedreht und darauf gehofft, dass man damit durchkommt. Doch mit den jetzigen Schritten hat sich das Blatt gewendet: Ihr zeigt plakativ eure Unterstützung für antisemitische, menschenverachtende Positionen. Und wir müssen euch darum sagen: Es reicht.

ES REICHT

Wir erwarten von den Gesellschafter*innen der Documenta gGmbH, dass den Einschätzungen und Empfehlungen des Gremiums unverzüglich Rechnung getragen wird und die notwendigen Schritte zur dringlichen Aufarbeitung eingeleitet werden. Es braucht einen Untersuchungsausschuss.

Es kann nicht sein, dass die Verantwortlichen in der Stadt-, Landes-, und Bundespolitik dieser antisemitischen Agitation weiter tatenlos zusehen und keine Konsequenzen gezogen werden. Es muss anerkannt werden, dass die Politik der Konfliktvermeidung, der Relativierung und des Wegsehens, die seit Beginn des Jahres von vielen politischen Verantwortlichen betrieben wird, zu dieser Situation beigetragen hat und dass es genau diese Haltung ist, die auch den Ruf der Stadt Kassel nachhaltig schädigen wird.

Wir erwarten von Euch, ruangrupa, dass ihr mit eurer unsäglichen Kampagne aufhört, anerkennt, dass es Antisemitismus auf dieser documenta gibt und etwas dafür tut, euren zukünftigen Ruf als Künstler*innen, ja als Menschen, noch halbwegs zu wahren.

WIR SIND AUCH WÜTEND, WIR SIND AUCH TRAURIG, WIR SIND AUCH MÜDE, WIR STEHEN ZUSAMMEN.

Kassel, 13. September 2022

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Antisemitismus als Realität anerkennen – Ausgewogene Prüfung der documenta-Kunstwerke notwendig

Statement der Jüdischen Gemeinde Kassel und des Sara Nussbaum Zentrums für Jüdisches Leben

Die Jüdische Gemeinde Kassel und das Sara Nussbaum Zentrum für Jüdisches Leben in Kassel begleiten und beobachten die Vorwürfe und den Skandal um Antisemitismus auf der documenta fifteen seit Januar 2022.

Wir stellen am jetzigen Punkt der Entwicklung Folgendes fest:

In der aktuellen Debatte wird Hass gegen Jüdinnen und Juden allzu oft als eine jüdische Befindlichkeit wahrgenommen. Dies stört uns massiv. Wir wehren uns entschieden gegen Positionen, die die Bedeutung und die Auswirkungen des Antisemitismus herunterspielen und als kulturelle bzw. traditionelle Eigenart verklären. Häufig fällt in diesem Zusammenhang der Begriff des „globalen Südens“ und vermeintlich „anderer“ Positionen, die man wahrzunehmen habe. Dies sehen wir sehr kritisch. Für uns sind die Relativierung der Shoa und das Absprechen des Existenzrechts Israels indiskutable Positionen.

Wir müssen zudem mit aller Deutlichkeit feststellen: Antisemitismus ist in keinem Sinn eine Befindlichkeit von Jüdinnen und Juden, sondern eine alltägliche Realität. Es geht nicht um „negative Gefühle“, sondern um unsere Sicherheit in Deutschland. Schon jetzt spüren wir Auswirkungen des aktuellen Skandals. Das gilt beispielsweise für Demonstrationen auf dem Kasseler Friedrichsplatz, bei denen anti-israelische Parolen gebrüllt werden. Gleiches gilt für unsere Bildungsarbeit, bei der schon jetzt Schüler*innen anderer Religionen den Veranstaltungen in einem jüdischen Zentrum fernbleiben – offenbar vor dem Hintergrund der aktuellen Antisemitismus-Debatte. Weitere Anfeindungen, das wissen wir aus Erfahrung, werden wir in Zukunft spüren.

Die documenta-Generaldirektion kündigte kürzlich eine systematische Untersuchung auf „kritische Werke“ an. (Warum eigentlich dieser indifferente Begriff?) Die Kurator*innengruppe Ruangrupa soll nun durch jüdische Expert*innen unterstützt werden. Wir weisen darauf hin, dass es von unserer Seite Angebote dieser Unterstützung bereits gab. So hat Ruangrupa das Sara Nussbaum Zentrum bereits besucht. Doch weitere konstruktive Angebote unsererseits wurden nicht einbezogen. So wurden Listen mit möglichen Gesprächspartner*innen für Veranstaltungen nicht wahrgenommen, Recherchen nicht nachvollziehbar beachtet.

Sollte nun eine solche Untersuchung erfolgen, kommt sie verspätet, doch wir begrüßen sie. Wir weisen jedoch im selben Zug mit Nachdruck darauf hin, dass die Unterstützung durch Berater*innen ausgeglichen besetzt sein muss. So müssen in einer möglichen Beratungskommission plurale Perspektiven einbezogen werden. Dazu müssen ausdrücklich pro-israelische Haltungen gehören. Generell kann und darf es nicht sein, einzelne jüdische Positionen zu instrumentalisieren, um die von Antisemitismus gekaperte documenta auf gewisse Weise zu verteidigen.

Der Kasseler Oberbürgermeister und die documenta-Generaldirektorin sind auf uns zugekommen und haben sich in einem persönlichen Gespräch entschuldigt. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass mit einer möglichen Entfernung antisemitischer Inhalte der documenta der Antisemitismus und die Debatte um ihn nicht endet.

Grundsätzlich gilt es festzustellen: Durch die judenfeindlichen Werke der Künstler*innen ist uns allen schon jetzt ein immenser Schaden entstanden. Doch es sind nicht Jüdinnen und Juden, die für Trennung und Spaltung sorgen. Es sind die Antisemiten, die mit ihren Taten nicht zuletzt auch den anderen Künstler*innen der documenta fifteen schaden, da sie mit ihren Aktionen deren sehenswerte Arbeiten und Werke überschatten. Die documenta als wunderbare künstlerische Idee in Kassel, die wir als jüdische Bürger*innen ausdrücklich auch als unsere Stadt und als unsere Kunstausstellung begreifen, sollte aus jüdischer Perspektive geschützt und erhalten werden.

Kassel, 23. Juni 2022

Statement zur Diskussion um Antisemitismusvorwürfe gegen die documenta 15

Gemeinsames Statement der Jüdischen Gemeinde Kassel und des Sara Nussbaum Zentrums für Jüdisches Leben zur aktuellen Diskussion um Antisemitismusvorwürfe gegen die documenta fifteen

In diesem Monat sind Vorwürfe gegenüber der documenta fifteen veröffentlicht worden, zu den eingeladenen Künstler*innen würden Menschen mit offen erkennbarer Unterstützung für den kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Boykott Israels (BDS) und/oder antisemitischen Haltungen zählen.

Bisher standen wir als Jüdische Gemeinde Kassel und Sara Nussbaum Zentrum für Jüdisches Leben außerhalb der Diskussion um die konkreten Vorgänge, zu deren Einschätzung wir uns nun aufgefordert sehen. Weder der Stadt Kassel noch der Institution documenta soll Schaden zugefügt werden, der sich letztlich negativ auf alle auswirkt. Wir halten es für falsch, die documenta in ihrer Gesamtheit als antisemitisch zu bezeichnen.

Würde die documenta als Plattform für die BDS-Kampagne benutzt werden, sähen wir dies als höchst problematisch. Das Ziel der kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Boykottaufrufe gegen Israel impliziert die Delegitimierung und Isolation israelischer und jüdischer Perspektiven in künstlerischen Diskursen. Werden Künstler*innen oder Institutionen eingeladen, die den Positionen der BDS-Bewegung – von Wissenschaftler*innen und dem Deutschen Bundestag per Beschluss als antisemitisch eingestuft – nahestehen, so werden diese ein Teil des Diskurses innerhalb der documenta.

Unseres Wissens nehmen an der documenta fifteen de facto keine israelischen oder jüdischen Künstler*innen teil, unabhängig von ihren Positionen. Es wäre aber eine Chance gewesen, Diskussionen zu führen, in denen unterschiedliche Stimmen beteiligt wären.

Deswegen freuen wir uns, dass die documenta angekündigt hat, einen Raum für eine offene und vielstimmige Debatte zu schaffen. Wir werden dieses Vorhaben aufmerksam begleiten.

Die Kunst muss frei sein und kann selbstverständlich politisiert werden. Nicht aber sollte sie Grundwerte infrage stellen. Auch ist das Existenzrecht Israels nicht verhandelbar. Durch einseitige Einladung von BDS-Positionen in größere gesellschaftliche Diskurse bestünde das Risiko, offene oder latente antisemitische Einstellungen zu normalisieren. Mit den Konsequenzen dieser Entwicklung sind jüdische Gemeinden in ganz Deutschland alltäglich konfrontiert.

In der heutigen Situation, wo die Grenzen des Erlaubten stark aufgeweicht werden, wie z. B. das Entfremden des Gelben Sterns auf Demonstrationen, wäre eine einseitige Diskussion aus unserer Sicht sehr gefährlich.

„We need to talk…” … indeed.

Kassel, 20.01.22

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Keine weiße Weste

Bei der Aufarbeitung der Documenta-Geschichte sollten auch Fragen zu Antisemitismus und Rassismus berücksichtigt werden

Das Fridericianum in Kassel. (Bild: H. Helmlechner, CC BY 2.5)

Die Gründungsriege der ersten Documenta im Jahr 1955 bestand zum großen Teil aus ehemaligen NSDAP-Mitgliedern. Das zeigen unter anderem aktuelle Forschungen der Kunsthistorikerin Mirl Redmann, deren Aufsatz „Das Flüstern der Fußnoten. Zu den NS-Biografien der documenta Gründer*innen“ gerade in der Reihe „documenta studien“ veröffentlicht wurde. Bis heute existiert der Mythos, die Gründung der bis heute bedeutendste Kunstausstellung in Kassel sei frei von Verbindungen zum Nazismus gewesen. Doch diese Erzählung wird nun, wissenschaftlich belegt, immer unglaubwürdiger.

Die Bilanz ist schockierend: Acht von insgesamt 21 Gründungsfiguren der ersten Documenta lassen sich, dem Artikel-Editorial von Nanne Buurman und Nora Sternfeld zufolge, inzwischen als NSDAP-Mitglieder identifizieren. Besonders konzentrieren sich Mirl Redmanns Untersuchungen auf den Kunsthistoriker Werner Haftmann, der von 1955-64 als wissenschaftlicher Berater der ersten Ausstellungen in Kassel wirkte. Haftmann und die übrigen Organisatoren bestimmten wesentlich die Ausrichtung der Kunstausstellung. Sie entschieden unter anderem über die Auswahl der Künstlerinnen und Künstler und die gezeigten Werke.

Es ergeben sich unzählige Fragen

Die Untersuchungen und Veröffentlichungen haben seit Ende 2019 eine Diskussion in der Wissenschaft und in den deutschen Feuilletons ausgelöst (beispielsweise hier, hier und hier). Es ergeben sich unzählige Fragen. Interessant wäre es vor allem zu wissen, welchen konkreten Einfluss die frühere Mitgliedschaft in der nationalsozialistischen Partei auf die Arbeit der Kuratoren hatte: Wurden beispielsweise bewusst ideologisch motivierte Leerstellen gelassen? Förderte man jene, deren Gesinnung vor dem Hintergrund früherer Zeiten einwandfrei schien? Welche Künstlerinnen und Künstler blieben unberücksichtigt, allein aufgrund ihrer Herkunft, religiösen und weltlichen Orientierung oder politischen Gesinnung – oder weil sie Jüdinnen und Juden waren?

Antisemitismus und Rassismus sollten im Blick der documenta-Forschung sein

Die Geschichte der Documenta müsse neu bewertet werden, bestätigte die Generaldirektorin der Documenta, Sabine Schormann, vor Kurzem in den Medien. Zur Aufarbeitung verwies sie auf das noch einzurichtende Documenta-Institut in Kassel. Wie und wann man sich dort mit der Nazi-Vergangenheit der Gründer beschäftigt, bleibt also noch abzuwarten.

Doch die Gründungsgeschichte der Documenta wissenschaftlich korrekt auf den Grund zu gehen, ist vor dem Hintergrund ihrer weltweiten Bedeutung wichtig. Nicht zuletzt mögliche Tendenzen von Antisemitismus und Rassismus unter den Kuratoren und Organisatoren der frühen Documenta-Ausstellungen sollten hier im Blick der Forschung sein.

Für die ehrliche Auseinandersetzung mit der Geschichte der Documenta, die immer sowohl bedeutende Kunstgeschichte als auch nordhessische Regionalgeschichte ist, wäre das ein mehr als wichtiger Baustein.

„Nicht nur Diskriminierung, sondern konkrete Gefahr!“

Statement zu T-Shirts mit dem „gelben Stern“ auf Demonstrationen in der Corona-Krise

In der Ausstellung des Sara Nussbaum Zentrums sind historische Abbildungen des gelben Sterns zu sehen. (Bild: ep/SNZ)

Auf „Corona-Demos“ und „Hygiene-Spaziergängen“ stilisieren sich Teilnehmer derzeit als Opfer einer vermeintlichen Diktatur. Unter diejenigen, die berechtige Sorgen vortragen und ihr Recht auf Meinungsfreiheit wahrnehmen, mischen sich nach Medienberichten immer häufiger auch Menschen mit rechter oder rechtsextremer Gesinnung. Wie jetzt auf Twitter gemeldet wurde und in den Medien zu lesen ist, wurde bei einer Veranstaltung im Mai in Kassel ein gelber Stern, auf dem vermutlich das Wort „ungeimpft“ zu lesen war, öffentlich auf einem T-Shirt gezeigt.

Offensichtlich wollen die Träger eines solchen Symbols zum Ausdruck bringen, von einem herrschenden System gebrandmarkt, vielleicht sogar politisch verfolgt zu werden. Der so genannte „Judenstern“ war das bekannteste Zeichen zur Zeit des Nationalsozialismus, um Jüdinnen und Juden äußerlich zu kennzeichnen, zu diskriminieren und zu verfolgen. Das führte letztlich zur Ermordung von über 6 Millionen Menschen in Europa.

Mehr als ein Symbol

Die jüdische Gemeinde reagierte entsetzt auf die aktuellen Berichte. „In jeder Familie unserer Gemeinde musste der gelbe Stern von Familienmitgliedern getragen werden“, sagt Ilana Katz, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Kassel. Sie erinnert als Beispiele an Verwandte, die im jüdischen Ghetto in Riga zum Tragen des Sterns gezwungen, verfolgt und schließlich ermordet wurden, sowie an Angehörige, die in einem KZ in der heutigen Ukraine ebenfalls den Stern tragen mussten und schließlich dort umkamen. Beispiele wie diese gebe es unzählige.

„Der mit dem gelben Stern verbundene Schrecken sitzt sehr, sehr tief im Hinterkopf“, versucht Ilana Katz das Gefühl zu beschreiben. Auch wenn viele der heutigen Jüdinnen und Juden späteren Generationen angehörten, erzeuge es allein große Ängste, ihn zu sehen. „Der gelbe Stern steht nicht nur für Diskriminierung, sondern für sehr konkrete Lebensgefahr“.

Die jüdische Gemeinde ist tief getroffen

Die jetzige Verwendung durch Demonstranten empfindet Ilana Katz als billige Manipulation und eine Art von „Entweihung“ eines negativen, schrecklichen Symbols. „Die gesamte jüdische Gemeinde ist tief getroffen wegen dieser Ausnutzung der historisch höchst beladenen Symbolik.“ Dass so etwas gerade in Deutschland passiere, wo man im Bildungssystem ständig und ausgiebig über den Nationalsozialismus, seine Methoden und die grausamen Folgen lerne, mache viele in der jüdischen Community wütend und fassungslos.

Eigenes Handeln überdenken, sich mit Geschichte auseinandersetzen

Wer das Tragen eines solchen T-Shirts erwäge, von dem fordert Ilana Katz ein genaues Abwägen und Reflektieren des eigenen Handelns – insbesondere eine Auseinandersetzung mit der konkreten Geschichte des gelben Sterns und seiner Trägerinnen und Träger und ihrer Familien. Persönliche Gespräche mit Betroffenen und Fachleuten, seriöse Literatur und Internetquellen böten ausreichend Gelegenheit, sich zu informieren. „Es geht nicht darum, freie Meinungsäußerung zu verbieten“, betont sie. „Es geht darum, die eigenen Positionen nicht auf dem Rücken von Opfern auszutragen.“

(Titelbild: ep/SNZ)

Solidarität zum Jahrestag der Staatsgründung Israels

In der Nacht des 14. Mai 1948 rief der spätere Ministerpräsident David Ben-Gurion die israelische Staatsgründung aus. Israel als Staat ist also nun 72 Jahre alt.

Für Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt ist diese Gründung ein besonderes Datum in der Weltgeschichte. Denn Israel gilt für viele als (zweite) Heimat, als Rückzugs- und Zufluchtsort. Gerade in einer Zeit des international und auch bei uns in Deutschland immer präsenter werdenden Antisemitismus ist diese Gewissheit etwas sehr Wichtiges.

Als Zeichen der Freundschaft zu Israel seitens der Stadt Kassel wird heute die blau-weiße Flagge mit Davidstern vor dem Rathaus wehen.

„Wir alle sind betroffen“

Statement zur Anklage gegen den mutmaßlichen Mörder des Regierungspräsidenten Walter Lübcke

Am 2. Juni 2019 wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke in seinem Wohnhaus in Wolfhagen-Istha aus nächster Nähe erschossen. Wie am Mittwoch bekannt wurde, ist nun Anklage gegen den mutmaßlichen Täter, den Kasseler Stephan E., und seinen Unterstützer Markus H. erhoben worden. Ausschlaggebend für die Tat war demnach die Grundhaltung von Stephan E., die als völkisch-nationalistisch, von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit getragen angesehen wird. Der Fall weist auch Besorgnis erregende Verbindungen zur jüdischen Gemeinde in Kassel auf.

Foto: Viktor Zvarun

Offenbar hatte E. „schon vor dem Mord an dem CDU-Politiker mit dem Gedanken [gespielt], Anschläge [zu] verüben. So habe er eine Synagoge in Kassel ausgespäht und Dutzende Dossiers über vermeintliche Feinde angelegt“. Das steht in einem ausführlichen Artikel, den das Magazin Der Spiegel vor Kurzem veröffentlicht hat. Die Hinweise darauf, schreiben die Journalisten, seien auf einem versteckten USB-Stick gespeichert. Die Dateiordner hätten Namen wie „Juden Kassel“ oder „Daten Synagoge“. Nicht nur der „Betrieb“ an der Kasseler Synagoge sei in der Datei festgehalten worden, sondern auch der Besuch von Jugendlichen in dem G‘tteshaus.

Beobachtet zu werden wird zur Gewissheit

Die unmittelbar von diesen Nachrichten Betroffenen, die Mitglieder der jüdischen Gemeinde, sind davon überaus beunruhigt. Denn die Berichte lassen eine immer bestehende, diffuse Ahnung zur Wirklichkeit werden. Das Gefühl, beobachtet zu werden, ist für viele zu einer Gewissheit geworden. Es verursacht bei den Betroffenen ein Höchstmaß an negativen Emotionen.

Denn es geht nicht allein um die Information, dass die Gemeinde ausgespäht wurde. Gerade Jugendliche jüdischen Glaubens, für die sowohl Gemeinde als auch Gesellschaft eine besondere Verantwortung haben und die besonders schützenswert sind, befanden sich laut Spiegel im Blickfeld des mutmaßlichen Mörders. Das macht uns fassungslos. Ohnehin ist es schwierig, junge Menschen dazu zu motivieren, sich zu engagieren. Doch nun sind neue Ängste und Vorurteile entstanden, von denen wir befürchten, dass sie unser Zusammenleben langfristig bedrohen.

Eine Masse an Menschen ist betroffen

„Nicht nur Menschen, die auf der Liste standen, sind beunruhigt“, betont Ilana Katz, die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde. „Es betrifft viele weitere Menschen. Dazu zählen alle unsere Angehörigen, Freunde, Mitarbeiter, Nachbarn, Kooperationspartner und viele mehr.“ Von dem Terror, dessen Wurzeln hier gesät worden sind, ist also nichts weniger als eine Masse an Menschen betroffen, so Katz. Dieses oft im Verborgenen bleibende Leid geht aus unserer Sicht auf das Konto derjenigen, die letztlich so skrupellos sind, dass sie Mordpläne in die Tat umsetzen.

Unser Mitgefühl gilt allen, die wie wir von den jetzigen Vorfällen direkt oder indirekt betroffen sind. Letztlich sind es aber wir alle, die von diesen üblen Vorgängen seit Langem betroffen sind. Rechtsextremismus ist wahrlich kein neues Phänomen. Seine Gefahr zeigt sich schon seit Langem nicht nur irgendwo auf der Welt, sondern ganz konkret hier bei uns in der Region. Noch vor dem Anschlag auf Walter Lübcke gab es andere schreckliche Ereignisse bei uns in Kassel, die mit Rechtsextremismus in Verbindung stehen. In jüngerer Zeit ist es vor allem der Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006.

Kein Einzeltäter

Doch natürlich geht die Chronik rassistischen und fremdenfeindlichen Gedankenguts weit in die Geschichte zurück. Dessen sollte man sich bewusst sein, wenn irgendwo betont wird, es handle sich mutmaßlich um einen Einzeltäter. Nein. Nach unseren Erkenntnissen ist uns bewusst: Die rechte Szene ist gut vernetzt.

Im Interesse der Angehörigen des Opfers und aller Beteiligten ist es nun nötig, dass der Fall lückenlos und professionell aufgeklärt wird. Diejenigen, die für die Taten verantwortlich sind, müssen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln des Rechtsstaats zur Rechenschaft gezogen und entsprechend verurteilt werden.

Zusammenhalt ist wichtig

Die Aufgabe für uns als Zivilgesellschaft sollte es sein, zusammenzustehen und sich offen und mutig gegen Antisemitismus, Menschenhass, Terror und Gewalt auszusprechen. Denn der aktuelle Fall zeigt: Ganz gleich ob Christen, Juden, Muslime, Konfessionslose oder andere – von den Auswirkungen von Gewalt und Terror sind wir alle betroffen. Solidarisch zu sein, zusammenzuwirken und aufeinander Acht zu geben, scheint uns darum mehr denn je das dringende Gebot der Stunde.

„Lachen und Weinen gehen immer zusammen!“

Interview mit Ilana Katz, Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, zu den aktuellen Auswirkungen der Corona-Krise auf das jüdische Leben in Kassel

Ilana, du bist die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Kassel. Wie betroffen ist die Gemeinde jetzt, Ende März, von der Corona-Virus-Pandemie?

Unsere Gemeinde ist sehr betroffen, vor allem wegen des meist hohen Alters unserer Mitglieder. Etwa Dreiviertel unter ihnen sind älter als 65 Jahre. Sie zählen also zu einer besonders gefährdeten Gruppe.

Ilana Katz ist die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Kassel.

Wie eingeschränkt ist das jüdische Leben derzeit?

Das Purimfest ist ausgefallen, und nun wird auch Pessach ausfallen. Die Sabbat-Gottesdienste finden nicht statt, die Tora wird nicht gelesen. Unser Rabbiner befindet sich in Quarantäne in Israel. Es betrifft auch den entfallenden Religionsunterricht an den Schulen, die Schi’urim, die fehlenden Lehrstunden für Erwachsene usw. Eigentlich alle Aktivitäten, die in einer Gemeinde sonst für Leben sorgen.

Wie tauschen sich die Gemeindemitglieder trotzdem aus?

Das geht vor allem per Telefon und Handy. Außerdem ist in der Synagoge an jedem Werktag jemand präsent. Jeder kann also in der Synagoge anrufen und es wird versucht, zu helfen. Wir möchten dadurch die Kommunikation unterstützen, so gut es geht.

Das Sara Nussbaum Zentrum steht für die Vermittlung von jüdischem Leben und jüdischer Kultur. Wie wichtig ist Kultur jetzt?

Egal in welcher Zeit, Kultur ist immer sehr wichtig! (lacht) Wir teilen unsere Geschichten und Erinnerungen. Auch moderne Medien werden immer häufiger genutzt. Zum Beispiel versenden unsere Rabbiner kurze Statements per Handy. Diese Nachrichten verbreiten sich gut. Sie werden mir teilweise sogar von meinen christlichen Bekannten weitergeleitet. Das ist toll.

Und wie ist es mit denjenigen, die kein Smartphone benutzen?

Kraft gibt uns auch immer wieder die Musik, unsere Lieder und Melodien. Viele Lieder, gerade die jüdischen, kommen aus Israel und sind Gebete. Und auch Witze gehören stark zur jüdischen Kultur. In unserer Tradition gehen Lachen und Weinen bekanntlich immer zusammen.

Wie geht die Arbeit für die jüdische Kultur weiter?

Sehr wichtig ist, dass wir in der Kulturszene weiterhin arbeiten, auch von zuhause aus. Wir bringen unzählige Ideen zu neuen Projekten ein. Dabei sind ganz viele Menschen miteinander verbunden. Wir tauschen uns über Skizzen und Entwürfe aus und arbeiten gemeinsam daran, dass es weiter geht.

Du bist selbst als Unternehmerin im Pflege-Sektor tätig. Was bedeutet die Krise für deinen Betrieb?

Es gibt vielfältige Probleme. In der Regel haben wir genug Handschuhe, Desinfektionsmittel, Mundschutze, Einwegkleidung usw. für ein halbes Jahr auf Vorrat. Auch wenn wir gut vorbereitet sind, befinden wir uns im Moment aber doch spürbar an der Grenze. Leider passieren auch immer wieder schreckliche Vorfälle. Besonders, dass wichtige Ausrüstung wie Desinfektionsmittel gestohlen wird, ist für mich eine inakzeptable Straftat.

Welche Gedanken bewegen dich als Unternehmerin?

Ich hoffe, wir verlieren keine Menschen und überstehen die Pandemie. Ich mache mir Sorgen um alle meine Bekannte, Freunde und meine Mitarbeiter. Dieser große Kreis ist ein wichtiger Teil meines Lebens. Und ich hoffe, alle überstehen dieses Virus – nicht nur physisch, sondern auch psychisch.

Viele, auch Angehörige von Älteren, haben Sorgen und Unsicherheiten. Was sagst du ihnen?

Wir haben unseren Betrieb so organisiert, dass wir Patienten zuhause betreuen. Wir achten auf Schutz und Desinfektion. Ich kann natürlich gar nichts versprechen, aber alle geben sich die größte Mühe und arbeiten sehr professionell: Wir kaufen ein, wir bringen Essen und liefern es an die Tür. Spaziergänge werden zu zweit und an der frischen Luft gemacht. Für Menschen, die nicht allein zuhause sein können und dürfen, haben wir Notgruppen organisiert. So achten wir auch auf diese Personen.

Trotz der aktuellen Probleme geht man davon aus, dass die Situation bald vorübergeht. Welche Erlebnisse, welche Gedanken machen dir im Moment am meisten Hoffnung?

Mein Geburtstag! (Lacht.) Auch wenn er in diesem Jahr wohl in ganz kleinem Kreis gefeiert wird. Ich bin so begeistert von der Arbeit des Sara Nussbaum Zentrums, von den neuen Projekten, die wir bald beginnen. Ich genieße schon jetzt diese kreative Phase und ich weiß, das wird großartig.

Vielen Dank für das Gespräch!