Vor 90 Jahren, im März 1933, erlebte Kassel eine Welle des nationalsozialistischen Terrors. Er richtete sich in massiver Weise gegen die jüdische Bevölkerung der Stadt. Wir haben mit Prof. Dr. Dietfrid Krause-Vilmar, langjährigem Professor an der Universität Kassel und Initiator der Gedenkstätte Breitenau, über die Erinnerung an die historischen Ereignisse, auch vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen, gesprochen.
Herr Professor Krause-Vilmar, der Nazi-Terror im März 1933 ist, wie die gesamte Zeit des Nationalsozialismus, ein Teil unserer Geschichte. Gibt es Gründe für Sie, auf die Ereignisse heute wachsam zurückzublicken?
In jedem Fall. Sicherlich leben wir heute in einer ganz anderen Staatsform als vor 90 Jahren. Und ich persönlich war als Historiker lange Zeit der Auffassung, die in Bonn gegründete Bundesrepublik ist nicht die Weimarer Republik. Doch wenn man weiß, wie die Nazis vor 90 Jahren an die Macht gekommen sind – unter anderem durch terroristische Aktionen – und man sieht sich um, was in den letzten Jahren passiert ist, wird man in diesem Urteil vorsichtiger.
Welche Ereignisse haben für Sie zu diesem Wandel geführt?
Die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, also eines führenden demokratischen Politikers durch einen Rechtsextremisten, erinnert an die Morde in der Weimarer Republik, an die Ermordung Walther Rathenaus, an das Attentat auf Philipp Scheidemann. Es ist ungeheuerlich, dass jemand, den wir gewählt haben, der unsere Interessen an höchster Stelle vertritt, umgebracht wird, um Demokratie und Rechtsstaat zu schwächen. Das ist ja genau die Methode gewesen, mit der sich die Rechtsextremisten bis 1933 an die Macht gemordet haben.
Auch abgesehen von solch einer gravierenden Tat müssen wir feststellen, dass Angriffe auf den Rechtsstaat und auf Mandatare des Rechtsstaats weiter zunehmen – auf Bürgermeister, Beigeordnete, bis hin zu Polizisten, Rettungskräften und Feuerwehrleuten. Mit solchen Aktionen soll der demokratische Rechtsstaat offenkundig diskreditiert und demontiert werden. Und dies geschieht, so stellen es sich die Demokratiefeinde vor, um den Weg freizumachen für eine neue Staatsform. Für mich sind das Verhältnisse wie zur Zeit der Weimarer Republik.
Hat Terror noch immer das gleiche Gesicht?
Es sind vergleichbare Methoden. Das Kernstück ist der menschenverachtende Terrorismus gegen Einzelne, die misshandelt, diskreditiert oder in Einzelfällen ermordet werden, um Furcht und Schrecken zu verbreiten. Wenn zum Beispiel ein Bürgermeister aufgrund anhaltender massiver Bedrohungen sagt, ich kandidiere nicht mehr, um meine Frau und Kinder nicht zu gefährden, ist eine Grenze überschritten.
Terror ist ein abstrakter Begriff, doch er wird furchtbar konkret, wenn etwas passiert. Hat sich hier seit 90 Jahren in unserer Wahrnehmung etwas verändert?
Ich halte es im Kern für vergleichbar. Für mich gibt es qualitativ keine andere Dimension, wenn wir etwa an bewaffnete Trupps zur Zeit des Nationalsozialismus denken und heute an die Reichsbürgerszene und ihre Pläne, sich Waffen zuzulegen. Auf der anderen Seite verbreiten sich Schreckensnachrichten allerdings viel schneller und flächendeckender. Denn die Täter nutzen häufig auch die modernen Medien und das Internet, um auf sich aufmerksam zu machen.
Hinzu kommt die Hass-Sprache. Schon 1932 gab es im Stadtparlament offene Todesdrohungen durch Nationalsozialisten, beispielsweise gegen Sozialdemokraten. Auch der Judenhass der Nazis war öffentlich wahrnehmbar. Dies alles geschah auch schon vor der Machtergreifung im Jahr 1933. Viele Dinge würde man heute aufgrund der strafrechtlichen Verfolgung zwar nicht mehr in dieser Form öffentlich machen. Die Verhetzung hat sich neue Wege gesucht – etwa in Chatgruppen.
Was folgt daraus?
Es braucht aus meiner Sicht eine alarmierend erhöhte Aufmerksamkeit des Staates und der Zivilgesellschaft. Die Gegenkräfte müssen sich aktivieren. Ich habe freilich kein Rezept, wie das genau gelingen kann. Sicher ist aber, erhöhte Aufmerksamkeit, Einspruch und Wehrhaftigkeit sind nötig, wo immer sie möglich sind. Das geht bei scheinbaren Kleinigkeiten los, etwa Ausgrenzungen oder Diskriminierungen in der Schule oder im Alltag, wo es unbedingt Widerrede aus der Gruppe und auch aus den Institutionen braucht.
Immer wieder wird darüber diskutiert, welchen Stellenwert und Umfang die Erinnerung an den Nationalsozialismus im Unterricht haben soll. Welchen Blick haben Sie darauf?
Einen ganz großen Stellenwert. Es hat keinen Sinn, die Zeit des Nationalsozialismus als rein historischen Stoff abzuhandeln. Vielmehr sollte das Wissen aus meiner Sicht vergegenwärtigt werden. Vergegenwärtigung bedeutet, dass man das, was historisch passiert ist, in die Gegenwart und in die Zukunft hinüberträgt. Dazu gehört, sich zu fragen: Was bedeuten diese Ereignisse für das Heute und das Morgen? Wohnen ihnen noch eine Aktualität inne? Und welche Konsequenzen ziehen wir daraus für unser Verständnis von uns selbst und unser Verhältnis zu anderen?
Welche Rolle spielt Wissen in diesem Zusammenhang?
Wir wissen heute sehr viel mehr als diejenigen, die sich 1933 möglicherweise noch Illusionen gemacht haben oder noch gar nichts wussten. Und dieses Wissen, welcher Methoden sich der Rechtsextremismus bedient und wohin er führt, gilt es heute zu nutzen. Man nimmt das historische Wissen in sich hinein als eine Art Erfahrung und wendet es auf die Gegenwart an.