Amerikanischer Generalkonsul zu Besuch im Sara Nussbaum Zentrum

Ein besonderer Besuch für das Sara Nussbaum Zentrum: Der amerikanische Generalkonsul Norman Thatcher Scharpf stattete am 8. November 2022 dem Sara Nussbaum Zentrum für Jüdisches Leben in Kassel einen Besuch ab.

Nach der herzlichen Begrüßung durch die Initiatorin der Einrichtung Ilana Katz, ihren Sohn Alexander Katz sowie SNZ-Leiterin Elena Padva erhielten sie von Gabi Katz eine Führung durch die Räumlichkeiten. Dabei ging es einerseits um die Dauerausstellung „700 Jahre jüdisches Leben in Kassel“, andererseits um die Ausstellung „Netz gegen Hetz“, die sich mit aktuellen Tendenzen wie wachsendem Antisemitismus und Verschwörungserzählungen im Zuge der Corona-Pandemie beschäftigt.

Der Generalkonsul zeigte sich sehr interessiert und beeindruckt von den gezeigten Inhalten, insbesondere die Exponate der Dauerausstellung, die Strichzeichnung „6 Millionen“ zur Shoa sowie eine Wand mit der Darstellung aktueller antisemitischer Vorfälle.

Eintrag ins SNZ-Gästebuch

Bei einem anschließenden Austausch wurde über weitere derzeitige Themen wie den Antisemitismus-Skandal auf der documenta fifteen, den interreligiösen Austausch vor Ort, jüdische Lokalgeschichte und die Frage des Zusammenhalts in einer vielfältiger werdenden Gesellschaft gesprochen. Scharpf lobte anschließend die Arbeit des Zentrums, freute sich auf einen weiterführenden Austausch mit dem Team und versprach seine zukünftige Unterstützung.

Ilana Katz und das Team dankten dem amerikanischen Generalkonsul für den ausführlichen Besuch und den persönlichen Dialog. Zum Abschluss des Besuchs trug sich Scharpf in das Gästebuch des Sara Nussbaum Zentrums ein.

29.11.: Lesung an Sara Nussbaums Geburtstag: Buchvorstellung „Sara und Sofie“

„Nicht alles ist frei erfunden, aber alles frei gestaltet“ (Uwe Timm)

Im Sinne dieses Mottos beschreibt Doris Reckewell in ihrem Roman „Sara und Sofie“ die Schicksale von Sara Nussbaum und ihrer Tochter Sofie Reckewell während der Nazizeit und des Krieges. Beide haben auf ungewöhnliche Weise den Holocaust überlebt. Wie haben sie es geschafft, mit den vielen Krisen und Schicksalsschlägen fertig zu werden? Was hat sie angetrieben, welche Eigenschaften waren bei ihnen besonders ausgeprägt?

Bemerkenswerte Lebenswege: Sara Nussbaum und ihre Tochter Sofie Reckewell. (Foto: Privatbesitz)

Sara, geboren 1868, ausgebildete Krankenschwester, verliert ihren Mann in den dreißiger Jahren nach einer Schlägerei mit der SA. Sie wird 1942 nach Theresienstadt deportiert und arbeitet in der Typhusabteilung. Im Februar 1945 trägt sie sich in eine Transportliste ein, dessen Ziel zwar mit der Schweiz angegeben ist, von dem aber alle glauben, dass auch er im Osten endet. Aber es geschieht das Unfassbare: Der Transport geht nach Süden, 1200 Menschen sind gerettet, darunter Sara.

Sofie heiratet und tritt zum evangelischen Glauben ihres Mannes Otto über. Aber nur durch einen von langer Hand geplanten Coup von Otto entgeht sie der Deportation und verbringt den Krieg zurückgezogen in der Wohnung, während Otto viel unterwegs ist und um diese Reisen ein Geheimnis macht, das Sofie erst nach seinem Tod lüften kann. Im späten Alter erfährt ihr Leben nochmals eine geradezu zauberhafte Wendung, die sie bis nach Las Vegas bringt.

29. November 2022 (154. Geburtstag von Sara Nussbaum)
19 Uhr
Doris Reckewell, Lesung
Beatrix Hülsemann, musikalische Begleitung

17.11.: Lesung mit Ernst Klein – „Bernstein und Hüneberg – Fünf Jahrhunderte Deutsch-Jüdische Familiengeschichte“

In diesem Buch durchleben wir eine Familiengeschichte, die im 16. Jahrhundert beginnt und durch die Zeiten der Emanzipation der deutschen Juden über die ereignisreichen Erlebnisse Otto Bernsteins im ersten Weltkrieg, das Leben in der Weimarer Republik, die Zeiten der nationalsozialistischen Terrorherrschaft und die unbeschreibliche Leidenszeit im Ghetto Theresienstadt bis nach Australien führt.

Sein Sohn Bern Brent (früher Gerd Bernstein) erzählt im zweiten Teil des Buches von seiner Kindheit in Berlin, der Flucht nach England, der unfreiwilligen Verschiffung nach Australien zu Beginn des zweiten Weltkriegs und seinem erfolgreichen Neuanfang in der neuen Heimat. Den Abschluss bilden die Berichte über die Besuche Bern Brents und seiner Kinder und Enkel in Deutschland. Die Bernsteins waren mehrfach durch Eheschließungen mit Töchtern der Kaufmannsfamilie Hüneberg in Volkmarsen verbunden.

Der Autor wird einige kurze Passagen aus Otto Bernsteins Jugend in Volkmarsen, im Realgymnasium in Kassel und aus der Zwischenkriegszeit vorstellen.

In Erinnerung an den 80. Jahrestag der Deportation von 753 Frauen, Männern und Kindern von Kassel nach Theresienstadt (7.9.1942) werden im zweiten Teil der Lesung die tiefgehenden Schilderungen Otto Bernsteins über seine Leidenszeit im „Ghetto Theresienstadt“ auszugsweise vorgetragen. Seine Berichte und seine beeindruckenden Gedichte aus dieser Zeit zeigen uns auf, unter welchen menschenverachtenden Bedingungen die Gefangenen, unter ihnen auch Sara Nussbaum aus Kassel, um ihr Überleben kämpfen mussten. Begleitend zur Lesung werden auch einige Dokumente und Fotos präsentiert.

Donnerstag, 17. November 2022
19 Uhr
Sara Nussbaum Zentrum für Jüdisches Leben, Ludwig-Mond-Straße 127

Eintritt frei, Spenden erbeten.

Jom Kippur 5783 / 2022

Foto: vs/SNZ

Am Abend des 4. Oktober 2022 beginnt der Festtag Jom Kippur, der auch Versöhnungstag genannt wird.

Am höchsten jüdischen Feiertag geht es um Umkehr, Verzeihen und Vergebung. Jüdinnen und Juden fasten in einem umfassenden Sinn. In Israel steht das öffentliche Leben für 25 Stunden still.

Mit Jom Kippur enden die zehn Bußtage, die mit Rosch Haschana begonnen hatten. Zum Ende des Tages wird das Schofar, das Widderhorn, geblasen. (Auf dem Foto sieht man ein solches Schofar aus unserer Sammlung rechts im Bild.)

Wir wünschen allen ein friedliches Fest!

Am 20.9.: Lesung mit Winfried Jacob

Winfried Jacob, lange Zeit Gesellschafter der jüdischen Kasseler Firma Rosenzweig & Baumann, hat seine Lebenserinnerungen niedergeschrieben. Aus seinem Buch „Man muss das doch alles mal erzählen!“ liest er am Dienstag, 20. September 2022 um 19 Uhr im Sara Nussbaum Zentrum für Jüdisches Leben, Ludwig-Mond-Straße 127.

Die Lesung wird in Verbindung mit den aktuellen Geschehnissen des russischen Angriffs auf die Ukraine stehen.

Der Eintritt zu Lesung ist frei, um Spenden wird gebeten.

Wir sind auch wütend, wir sind auch traurig, wir sind auch müde, wir stehen zusammen.

Statement der Jüdischen Gemeinde Kassel und des Sara Nussbaum Zentrums für Jüdisches Leben

Wir waren geduldig, offen für jedes Gespräch und bereit dazu, unsere Gefühle zugunsten der sachlichen Auseinandersetzung zurückzustellen. Doch seit dem 10. September ist eine Grenze überschritten.

Wir beschuldigen Euch, ruangrupa und das „artistic team“, Antisemitismus zuzulassen und nachhaltig zu befördern. Alles, was Ihr bisher zum Antisemitismus geäußert habt, war ein Lippenbekenntnis. Wir glauben Euch nicht mehr, wenn Ihr vom Zuhören und Lernen sprecht. Wir sind enttäuscht.

WIR UNTERSTÜTZEN DAS EXPERT*INNENGREMIUM

Wir beobachten die Entwicklungen auf der documenta fifteen mit großem Entsetzen. Es wurde ein Expert*innengremium eingesetzt, um Hinweisen auf eine mögliche antisemitische Bildsprache auf der Weltkunstausstellung nachzugehen, diese zu erfassen und zu analysieren. Dieses Expert*innengremium hat am 10. September Texte veröffentlicht, die für uns absolut nachvollziehbar, stringent und dem Gegenstand vollkommen angemessen sind.

Es ist gut und richtig, dass sich das Gremium nun endlich an die Öffentlichkeit gewendet hat, um auf den Umgang der documenta fifteen mit antisemitischen Vorfällen hinzuweisen, die einseitig negative Darstellung Israels, die mehrfach in offenen Antisemitismus umschlägt, zu thematisieren, sowie konkrete Handlungsempfehlungen zu formulieren.

EURE REAKTION IST SKANDALÖS

Die Antwort von Euch – ruangrupa, drei Personen des „artistic teams“ und zahlreichen Künstler*innen der documenta fifteen –, die ebenfalls am 10. September unter dem Titel: „We are angry, we are sad, we are tired, we are united: Letter from lumbung community“ im Netz veröffentlicht wurde, halten wir für skandalös und aufschlussreich zugleich.

Dass darin dem Expert*innengremium eine „rassistische Tendenz“ vorgeworfen wird und von einer „bösartigen Struktur der Zensur“ dahergeredet wird, ist grotesk und ungeheuerlich. Diese offenen Angriffe werden von den Autor*innen des Textes nicht mit Beispielen belegt. Zugleich heißt es darin weiter: „Die Frage ist nicht das Existenzrecht Israels; Die Frage ist, wie es existiert. Widerstand gegen den Staat Israel ist Widerstand gegen den Siedlerkolonialismus, der Apartheid, ethnische Säuberung und Besatzung als Formen der Unterdrückung einsetzt.“

ZUHÖREN: GESCHEITERT. LERNEN: GESCHEITERT. LUMBUNG: GESCHEITERT. DOCUMENTA: ?

Dass diese Worte eine Antwort auf einen Text sind, der das Vorführen von Terror-Propagandafilmen der Japanischen Roten Armee kritisiert, einer Organisation, die das Selbstmordattentat im Kampf gegen den jüdischen Staat etabliert hat und am 30. Mai 1972 das Massaker am Flughafen Lod verübt hatte, bei dem 26 Menschen ermordet und 80 weitere verletzt wurden, zeigt für uns auf, wie weit antisemitisches Gedankengut unter den Organisator*innen der documenta fifteen verbreitet ist.

All dies beweist ferner, dass es, anders als angekündigt, keinen reflektierenden Lernprozess gab, bei dem man sich mit der Kritik und den Beobachtungen auseinandersetzte. Stattdessen wird jede Analyse, selbst die eines Gremiums aus renommierten Wissenschaftler*innen, zurückgewiesen und per se als „rassistisch“ diffamiert. All dies beweist, dass das Prinzip eines offenen, den Menschen zugewandten Prinzips des „lumbung“ desaströs gescheitert ist. Was beweist dies für die documenta fifteen?

PLAKATIVER ANTISEMITISMUS IM HERZEN DER DOCUMENTA

Offensichtlich handelt es sich bei dem Text um Teil einer Kampagne, die sich nicht nur für die antisemitische Boykottkampagne BDS ausspricht. Sondern es handelt sich bei den Autor*innen auch um Personen, die sich als Aktivist*innen derselben verstehen. So befinden sich nun mitten im Herzen der Documenta, dem Fridericianum, Plakate mit Aufschriften wie zum Beispiel: „BDS: Being in Documenta is a Struggle“, „Free Palestine from German guilt“, oder „Nakba is a Part of Erinnerungskultur“. Mit solchen Aussagen wird das Gedenken an die Shoah, die Ermordung von über sechs Millionen europäischen Juden und Jüdinnen, in einer perversen Weise instrumentalisiert und der Antisemitismus zugleich als ein exklusiv deutsches Phänomen bagatellisiert. In den sozialen Medien gibt es weitere Plakate dieser Reihe zu sehen, in denen Israel unter anderem als Apartheidsstaat dämonisiert wird.

Wir müssen anerkennen: Es war subtil. Es wurde genickt, wenn jemand gesagt hat, dass es schlimm ist. Es wurde darauf gehofft, dass Positionen in der Vielfalt nicht auffallen, dass sie im Stimmengewirr der Sommerzeit verhallen. Es wurde spekuliert, dass andere, in der Politik, in der Gesellschaft, sich darüber streiten, wessen Köpfe rollen müssen oder tatsächlich rollen. Es wurden Opfer zu Tätern gemacht, Argumente umgedreht und darauf gehofft, dass man damit durchkommt. Doch mit den jetzigen Schritten hat sich das Blatt gewendet: Ihr zeigt plakativ eure Unterstützung für antisemitische, menschenverachtende Positionen. Und wir müssen euch darum sagen: Es reicht.

ES REICHT

Wir erwarten von den Gesellschafter*innen der Documenta gGmbH, dass den Einschätzungen und Empfehlungen des Gremiums unverzüglich Rechnung getragen wird und die notwendigen Schritte zur dringlichen Aufarbeitung eingeleitet werden. Es braucht einen Untersuchungsausschuss.

Es kann nicht sein, dass die Verantwortlichen in der Stadt-, Landes-, und Bundespolitik dieser antisemitischen Agitation weiter tatenlos zusehen und keine Konsequenzen gezogen werden. Es muss anerkannt werden, dass die Politik der Konfliktvermeidung, der Relativierung und des Wegsehens, die seit Beginn des Jahres von vielen politischen Verantwortlichen betrieben wird, zu dieser Situation beigetragen hat und dass es genau diese Haltung ist, die auch den Ruf der Stadt Kassel nachhaltig schädigen wird.

Wir erwarten von Euch, ruangrupa, dass ihr mit eurer unsäglichen Kampagne aufhört, anerkennt, dass es Antisemitismus auf dieser documenta gibt und etwas dafür tut, euren zukünftigen Ruf als Künstler*innen, ja als Menschen, noch halbwegs zu wahren.

WIR SIND AUCH WÜTEND, WIR SIND AUCH TRAURIG, WIR SIND AUCH MÜDE, WIR STEHEN ZUSAMMEN.

Kassel, 13. September 2022

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Kunst-Installation „Domino“ der Arnold-Bode-Schule wird im Sara Nussbaum Zentrum gezeigt

Viele überdimensionierten Dominosteinen stehen im Raum, die einzelnen Steine sind in Reihen aufgestellt. Portraits von Menschen aus der Geschichte und der Gegenwart sind auf ihnen zu sehen, ebenso Bilder der Kasseler Arnold-Bode-Schule.

Mit dem Projekt „Domino“ möchten Schülerinnen und Schüler der Kasseler Berufsschule auf die Geschichte der Jüdinnen und Juden in der Stadt aufmerksam machen. Ein Teil des Geländes ihrer Schule diente in den 1940er-Jahren als Sammelplatz für die Deportationen durch die Nationalsozialisten.

Vertreter*innen der Kasseler Arnold-Bode-Schule bei der Eröffnung der Ausstellung.
SNZ-Leiterin Elena Padva verwies auf die Bezüge der Ausstellung zur Arbeit des Sara Nussbaum Zentrums.

„Unser Kunstwerk zeigt das Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Gegenwart“, so die Schülerinnen und Schüler. „Dargestellt durch die große Anzahl an Dominosteinen, die die Ansammlung von Menschen zeigt, welche in den Augen der Nazis nur nummerierte Objekte waren.“ Der Wendepunkt zur Gegenwart wird dann durch das Umfallen der Steine dargestellt.

Die Installation ist vom 5.-18. September im Sara Nussbaum Zentrum für Jüdisches Leben zu sehen. Schon während der Konzeption des Kunstwerks waren die Schüler*innen im engen Austausch mit dem Zentrum und der Jüdischen Gemeinde Kassel. „Das Domino-Kunstwerk macht plastisch greifbar, was bis heute unvorstellbar ist“, sagt SNZ-Leiterin Elena Padva. Mit der Zusammenarbeit setzt das SNZ die bisherige gute Kooperation mit der Arnold-Bode-Schule auf beeindruckende Weise fort.

Von der Grundidee, auf jedem Stein eine oder einen Deportierten abzubilden und mit den entsprechenden Daten vorzustellen, sind nur noch die Nummern geblieben, Vergangenheit und Gegenwart sind nun auf einer Seite zusammengerückt.

Heiko Lingelbach, Lehrer an der Arnold-Bode-Schule, in seiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung
Fotos: vs/SNZ

Die Ausstellung kann an folgenden Terminen besichtigt werden:

  • Eröffnung: 5. September 2022, 19 Uhr in Gegenwart der Schüler*innen und Pädagog*innen
  • 6. September + 13. September, jeweils 15-18 Uhr
  • 11. September 15-19 Uhr

Am 10. August: Vortrag mit Dr. Andreas Mertin: „Wenn Bilder töten“ zum Gaza-Guernica-Zyklus von Mohammed al Hawajri auf der documenta fifteen

Im Rahmen der Reihe „serious ! talk“ zum Thema postmoderner Antisemitismus hält der Kulturwissenschaftler und Kunstkurator Dr. Andreas Mertin einen Vortrag am Mittwoch, 10. August um 18 Uhr. Thema: „Wenn Bilder töten. Eine Auseinandersetzung mit dem Gaza-Guernica-Zyklus von Mohammed al Hawajri auf der documenta fifteen“.

In der Diskussion um problematische Bilder der documenta fifteen sind es vor allem drei künstlerische Beiträge, die die öffentliche Diskussion bestimmen: die Wimmelbilder des Kollektivs Taring Padi, die Propagandafilme für die PFLP von Masao Adachi und der „Guernica-Gaza 2010-2013“-Zyklus von Mohammed al Hawajri.

Europäische Kunstgeschichte als politisches Instrument

In der Veranstaltung soll es um die konkrete Beschäftigung mit diesem Zyklus gehen, von dem vier Werke im WH22 zu sehen sind. Was ist daran problematisch, was ist sogar toxisch und wie wird dabei die europäische Kunstgeschichte als politisches Instrument eingesetzt? Es hieße, die Macht der Bilder zu unterschätzen, wenn man diese Bilder bloß als Dokumente und nicht auch als Argumente, das heißt als visuelle Waffen in der intellektuellen Auseinandersetzung versteht. Aber was heißt das und woran erkennt man das?

Andreas Mertin ist ev. Theologe, Kulturwissenschaftler und Kunstkurator. Er hat in Kassel von 1997 bis 2007 die Begleitausstellungen der Ev. Kirche zur Documenta kuratiert und ist aktuell Herausgeber des Magazins für Theologie und Ästhetik (www.theomag.de).

Eine Veranstaltung in Kooperation mit der Deutsch-Israelischen Gesellschaft.

Weitere Informationen unter sara-nussbaum-zentrum.de/serioustalk

(Beitragsbild: Jean-François Millet, Harvesters Resting (Ruth and Boaz), 1853)

Antisemitismus als Realität anerkennen – Ausgewogene Prüfung der documenta-Kunstwerke notwendig

Statement der Jüdischen Gemeinde Kassel und des Sara Nussbaum Zentrums für Jüdisches Leben

Die Jüdische Gemeinde Kassel und das Sara Nussbaum Zentrum für Jüdisches Leben in Kassel begleiten und beobachten die Vorwürfe und den Skandal um Antisemitismus auf der documenta fifteen seit Januar 2022.

Wir stellen am jetzigen Punkt der Entwicklung Folgendes fest:

In der aktuellen Debatte wird Hass gegen Jüdinnen und Juden allzu oft als eine jüdische Befindlichkeit wahrgenommen. Dies stört uns massiv. Wir wehren uns entschieden gegen Positionen, die die Bedeutung und die Auswirkungen des Antisemitismus herunterspielen und als kulturelle bzw. traditionelle Eigenart verklären. Häufig fällt in diesem Zusammenhang der Begriff des „globalen Südens“ und vermeintlich „anderer“ Positionen, die man wahrzunehmen habe. Dies sehen wir sehr kritisch. Für uns sind die Relativierung der Shoa und das Absprechen des Existenzrechts Israels indiskutable Positionen.

Wir müssen zudem mit aller Deutlichkeit feststellen: Antisemitismus ist in keinem Sinn eine Befindlichkeit von Jüdinnen und Juden, sondern eine alltägliche Realität. Es geht nicht um „negative Gefühle“, sondern um unsere Sicherheit in Deutschland. Schon jetzt spüren wir Auswirkungen des aktuellen Skandals. Das gilt beispielsweise für Demonstrationen auf dem Kasseler Friedrichsplatz, bei denen anti-israelische Parolen gebrüllt werden. Gleiches gilt für unsere Bildungsarbeit, bei der schon jetzt Schüler*innen anderer Religionen den Veranstaltungen in einem jüdischen Zentrum fernbleiben – offenbar vor dem Hintergrund der aktuellen Antisemitismus-Debatte. Weitere Anfeindungen, das wissen wir aus Erfahrung, werden wir in Zukunft spüren.

Die documenta-Generaldirektion kündigte kürzlich eine systematische Untersuchung auf „kritische Werke“ an. (Warum eigentlich dieser indifferente Begriff?) Die Kurator*innengruppe Ruangrupa soll nun durch jüdische Expert*innen unterstützt werden. Wir weisen darauf hin, dass es von unserer Seite Angebote dieser Unterstützung bereits gab. So hat Ruangrupa das Sara Nussbaum Zentrum bereits besucht. Doch weitere konstruktive Angebote unsererseits wurden nicht einbezogen. So wurden Listen mit möglichen Gesprächspartner*innen für Veranstaltungen nicht wahrgenommen, Recherchen nicht nachvollziehbar beachtet.

Sollte nun eine solche Untersuchung erfolgen, kommt sie verspätet, doch wir begrüßen sie. Wir weisen jedoch im selben Zug mit Nachdruck darauf hin, dass die Unterstützung durch Berater*innen ausgeglichen besetzt sein muss. So müssen in einer möglichen Beratungskommission plurale Perspektiven einbezogen werden. Dazu müssen ausdrücklich pro-israelische Haltungen gehören. Generell kann und darf es nicht sein, einzelne jüdische Positionen zu instrumentalisieren, um die von Antisemitismus gekaperte documenta auf gewisse Weise zu verteidigen.

Der Kasseler Oberbürgermeister und die documenta-Generaldirektorin sind auf uns zugekommen und haben sich in einem persönlichen Gespräch entschuldigt. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass mit einer möglichen Entfernung antisemitischer Inhalte der documenta der Antisemitismus und die Debatte um ihn nicht endet.

Grundsätzlich gilt es festzustellen: Durch die judenfeindlichen Werke der Künstler*innen ist uns allen schon jetzt ein immenser Schaden entstanden. Doch es sind nicht Jüdinnen und Juden, die für Trennung und Spaltung sorgen. Es sind die Antisemiten, die mit ihren Taten nicht zuletzt auch den anderen Künstler*innen der documenta fifteen schaden, da sie mit ihren Aktionen deren sehenswerte Arbeiten und Werke überschatten. Die documenta als wunderbare künstlerische Idee in Kassel, die wir als jüdische Bürger*innen ausdrücklich auch als unsere Stadt und als unsere Kunstausstellung begreifen, sollte aus jüdischer Perspektive geschützt und erhalten werden.

Kassel, 23. Juni 2022

serious ! talk – Vortragsreihe im Juni zur Gegenwart des postmodernen Antisemitismus

Wie geht man mit aktuellem Judenhass, gerade im künstlerischen Kontext, um? Die Anfang des Jahres geäußerten Vorwürfe gegen die documenta fifteen und die kürzlich angekündigte Gesprächsreihe der Kasseler Kunstschau machen diese Frage hoch aktuell. Die Jüdische Gemeinde Kassel und das Sara Nussbaum Zentrum für Jüdisches Leben veranstalten vor diesem Hintergrund am 2.6. und 14.6. eine Vortragsreihe.

Weitere Informationen finden Sie hier.