Statement zur Anklage gegen den mutmaßlichen Mörder des Regierungspräsidenten Walter Lübcke
Am 2. Juni 2019 wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke in seinem Wohnhaus in Wolfhagen-Istha aus nächster Nähe erschossen. Wie am Mittwoch bekannt wurde, ist nun Anklage gegen den mutmaßlichen Täter, den Kasseler Stephan E., und seinen Unterstützer Markus H. erhoben worden. Ausschlaggebend für die Tat war demnach die Grundhaltung von Stephan E., die als völkisch-nationalistisch, von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit getragen angesehen wird. Der Fall weist auch Besorgnis erregende Verbindungen zur jüdischen Gemeinde in Kassel auf.
Offenbar hatte E. „schon vor dem Mord an dem CDU-Politiker mit dem Gedanken [gespielt], Anschläge [zu] verüben. So habe er eine Synagoge in Kassel ausgespäht und Dutzende Dossiers über vermeintliche Feinde angelegt“. Das steht in einem ausführlichen Artikel, den das Magazin Der Spiegel vor Kurzem veröffentlicht hat. Die Hinweise darauf, schreiben die Journalisten, seien auf einem versteckten USB-Stick gespeichert. Die Dateiordner hätten Namen wie „Juden Kassel“ oder „Daten Synagoge“. Nicht nur der „Betrieb“ an der Kasseler Synagoge sei in der Datei festgehalten worden, sondern auch der Besuch von Jugendlichen in dem G‘tteshaus.
Beobachtet zu werden wird zur Gewissheit
Die unmittelbar von diesen Nachrichten Betroffenen, die Mitglieder der jüdischen Gemeinde, sind davon überaus beunruhigt. Denn die Berichte lassen eine immer bestehende, diffuse Ahnung zur Wirklichkeit werden. Das Gefühl, beobachtet zu werden, ist für viele zu einer Gewissheit geworden. Es verursacht bei den Betroffenen ein Höchstmaß an negativen Emotionen.
Denn es geht nicht allein um die Information, dass die Gemeinde ausgespäht wurde. Gerade Jugendliche jüdischen Glaubens, für die sowohl Gemeinde als auch Gesellschaft eine besondere Verantwortung haben und die besonders schützenswert sind, befanden sich laut Spiegel im Blickfeld des mutmaßlichen Mörders. Das macht uns fassungslos. Ohnehin ist es schwierig, junge Menschen dazu zu motivieren, sich zu engagieren. Doch nun sind neue Ängste und Vorurteile entstanden, von denen wir befürchten, dass sie unser Zusammenleben langfristig bedrohen.
Eine Masse an Menschen ist betroffen
„Nicht nur Menschen, die auf der Liste standen, sind beunruhigt“, betont Ilana Katz, die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde. „Es betrifft viele weitere Menschen. Dazu zählen alle unsere Angehörigen, Freunde, Mitarbeiter, Nachbarn, Kooperationspartner und viele mehr.“ Von dem Terror, dessen Wurzeln hier gesät worden sind, ist also nichts weniger als eine Masse an Menschen betroffen, so Katz. Dieses oft im Verborgenen bleibende Leid geht aus unserer Sicht auf das Konto derjenigen, die letztlich so skrupellos sind, dass sie Mordpläne in die Tat umsetzen.
Unser Mitgefühl gilt allen, die wie wir von den jetzigen Vorfällen direkt oder indirekt betroffen sind. Letztlich sind es aber wir alle, die von diesen üblen Vorgängen seit Langem betroffen sind. Rechtsextremismus ist wahrlich kein neues Phänomen. Seine Gefahr zeigt sich schon seit Langem nicht nur irgendwo auf der Welt, sondern ganz konkret hier bei uns in der Region. Noch vor dem Anschlag auf Walter Lübcke gab es andere schreckliche Ereignisse bei uns in Kassel, die mit Rechtsextremismus in Verbindung stehen. In jüngerer Zeit ist es vor allem der Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006.
Kein Einzeltäter
Doch natürlich geht die Chronik rassistischen und fremdenfeindlichen Gedankenguts weit in die Geschichte zurück. Dessen sollte man sich bewusst sein, wenn irgendwo betont wird, es handle sich mutmaßlich um einen Einzeltäter. Nein. Nach unseren Erkenntnissen ist uns bewusst: Die rechte Szene ist gut vernetzt.
Im Interesse der Angehörigen des Opfers und aller Beteiligten ist es nun nötig, dass der Fall lückenlos und professionell aufgeklärt wird. Diejenigen, die für die Taten verantwortlich sind, müssen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln des Rechtsstaats zur Rechenschaft gezogen und entsprechend verurteilt werden.
Zusammenhalt ist wichtig
Die Aufgabe für uns als Zivilgesellschaft sollte es sein, zusammenzustehen und sich offen und mutig gegen Antisemitismus, Menschenhass, Terror und Gewalt auszusprechen. Denn der aktuelle Fall zeigt: Ganz gleich ob Christen, Juden, Muslime, Konfessionslose oder andere – von den Auswirkungen von Gewalt und Terror sind wir alle betroffen. Solidarisch zu sein, zusammenzuwirken und aufeinander Acht zu geben, scheint uns darum mehr denn je das dringende Gebot der Stunde.