30 Tage

Gedanken zu 30 Tagen seit Angriff der Hamas auf Israel.

Vor einem Monat geschah das, was unser Leben vollständig verändert hat. Wir haben Nachrichten gelesen, die uns schockiert und uns im Innersten berührt haben. Wir haben Bilder gesehen, die unser Verstand so schnell nicht verarbeiten konnte. Wir haben Stimmen gehört, von denen wir nicht glaubten, was sie sprachen. Wir haben Zeichen und Gesten gesehen, die uns wie alles zusammen immer wieder traurig, verzweifelt, wütend, starr, ablehnend, melancholisch, hoffnungslos, bleiern, trotzig, kämpferisch machten.

Alles zur selben Zeit, alles ohne zeitliche Ordnung, alles nebeneinander, hintereinander, übereinander, allein und zusammen mit anderen, zuhause, auf der Arbeit, in der Straßenbahn, im Auto, beim Einkaufen, im Büro, als direkte Erfahrung, als digitales Posting, als Echo, als Alptraum, als Wachtraum.

Unter den Füßen

Zusätzlich zu den Krisen, die wir in den letzten Jahren erlebt haben, ist seit 30 Tagen eine weitere Krise gekommen. Jedoch kam sie nicht „oben drauf“, sondern gewissermaßen „unten drunter“. Und immer, immer wieder zieht uns das mit zielgenauer Folgerichtigkeit den Boden unter den Füßen weg. Wäre es nicht so, wie es ist, es wäre kurios. Wir fühlen eine Lähmung, die uns anspornt. Es ist eine Motivation, um weiterzumachen, die an uns haftet wie zentnerschweres Blei.

Wir wissen uns in Gemeinschaften und Teams, die fest und fester zusammenhalten, in denen trotzdem jede*r aber dann doch den ganz eigenen Gedanken und Gefühlen nachhängt, die manchmal teilbar, manchmal nicht auszusprechen sind.

Wie schützt man jüdisches Leben?

Seit einem Monat wissen wir uns in einer Gesellschaft, in der Israel-Flaggen gestohlen, beschädigt oder zerstört werden. In der in Deutschland auf offener Straße jauchzend gefeiert wird, dass Jüdinnen und Juden und Menschen anderen Glaubens massenweise grausam ermordet wurden. Zudem wurden von der Hamas über 200 Geiseln verschleppt; die meisten sind noch lange nicht frei, einige werden es nie wieder sein. Es ist ein singuläres Verbrechen, ungekannt seit der Shoah. Gegen die Verursacher dieses Leids vorzugehen, macht schreckliches, neues Leid notwendig. Wir sehen dieses Leid, wir sind erschrocken und fühlen als Menschen mit den Zivilisten, deren Leben getroffen oder zerstört werden.

Wir kennen Bilder von Menschen, die mit Sternen markiert wurden. Im Oktober 2023 markiert man in Berlin jüdische Häuser wieder mit Sternen. Wir erleben, wie Synagogen unter verstärkten Schutz der Behörden gestellt werden, auch sonst werden Sicherheitsmaßnahmen erhöht. Lässt sich das jüdische Leben, der jüdische Alltag so gänzlich schützen? Kinder aus jüdischen Familien gehen jedenfalls lieber nicht zur Schule, jüdische Menschen kaufen in bestimmten Geschäften nicht mehr ein, Behörden raten Jüdinnen und Juden, so schwer es auch falle, bitte, machen Sie jetzt gerade das Hebräisch von Ihrem Auto ab. Aus Sicherheit. Aus Angst.

Und es fliegen dann auch Molotow-Cocktails gegen eine Synagoge in Berlin. Und in einer Zeremonienhalle in Wien wird Feuer gelegt. Und vermutlich wird in Duisburg ein Anschlag auf eine pro-israelische Demonstration nur ganz knapp vereitelt. Das Demonstrationsrecht, so ein wichtiges Gut der Demokratie, wird in vielen Städten, auch in Kassel, immer wieder eingeschränkt, weil befürchtet wird, dass Schlimmeres geschieht. Und wir machen TikTok und andere Social-Media-Kanäle auf und schauen in einen Orkus aus antisemitischem Hass und Falschinformation zu Israel.

Schweigen

Es entgeht uns nicht, dass manche zu diesen aktuellen Geschehen nicht viel zu sagen haben. Oder mit dem Finger auf andere zeigen. Hass gegen Jüdinnen und Juden ist ausdrücklich kein Phänomen, das nur von außen zu uns nach Deutschland gekommen ist oder zu uns strömt.

Wer sein eigenes Gewissen und das seiner Peer-Group mit dem Verweis auf einen angeblichen massenhaften Import beruhigt und deshalb schnelle, harte Maßnahmen gegen Asylbedürftige fordert, der hat am Phänomen des Antisemitismus etwas nicht ganz verstanden. Es gab und gibt Antisemitismus schon immer, in allen gesellschaftlichen Kreisen, besonders auch in denen, die es nicht wahrhaben wollen.

Rechtsextreme warten wahrscheinlich mit Manchem einfach ab, so viel spielt ihnen gerade in die Hände.

Eine alte Waage

Menschen diskutieren verstärkt über jüdisches Leben. Menschen zeigen sich solidarisch, bei Demonstrationen, bei „Wächter-Diensten“, im persönlichen Gespräch oder als E-Mail. Gleichzeitig entwickeln wir eine innere Abscheu gegen Worte wie „aber“, „beide Seiten“ und „luftleerer Raum“. Die Kontextualisierung, dieses Wunder der Aufklärung, dieses sonst so zuverlässige Instrument der Objektivierung, der Versachlichung und Ent-Emotionalisierung, sie ist so ungenau geworden wie eine uralte, verstaubte und verbogene Waage vom Dachboden. Wer jetzt gerade, im Angesicht von 1400 Opfern und unzähligen Traumatisierten, etwas ins Verhältnis setzen will und darum um Verständnis bittet, der setzt sich dem schlimmen Verdacht der bewussten Relativierung aus. Angesichts der Zäsur, die wir gerade erleben, ist es absolut inakzeptabel.

Menschen fragen: Sollte man nicht auch die „andere Seite“ sehen? Es fehlt so viel Wissen, so viel Bildung und Aufklärung! Unsere Bildungsarbeit hat sich gewandelt, An- und Nachfragen haben sich verstärkt. Jeden Tag führen wir zahlreiche Gespräche mit Vertreter*innen aus der Bildungslandschaft, mit Pädagog*innen und Multiplikator*innen, wir machen Workshops, gehen in Schulen. Gruppen besuchen uns.

Uns bedrückt es, wenn wir hören, dass Klassen aufstehen und den Raum verlassen, sobald von der Lehrkraft das Wort „Israel“ fällt. Ebenso bedrückt es uns, wenn in Bildungseinrichtungen bestimmte Verbote ausgesprochen werden müssen, damit die Lage nicht weiter eskaliert. (Es ist wie mit den Demos.)

Neue Konzepte

Wir selbst überprüfen unsere Angebote, passen sie an die aktuelle Lage an, suchen das Gespräch, werben für Verständnis und Dialog, wie wir es seit der Gründung unseres Zentrums tun. Wir sind überzeugt, dass wir neue und bessere Konzepte in der Bildung brauchen. Alles, was wir haben, greift in der jetzigen Situation zu kurz. Doch das ist nur möglich mit Mitteln, außer Geldern auch Zeit, Zuspruch, einer angemessenen Fehlerkultur, Geduld und Motivation.

Wir wollen es tun, obwohl es uns manchmal überkommt und die Hände in den Schoß zu fallen drohen.

Wir müssen es tun. Denn wir leben jetzt.

Kassel, 6.11.2023

(Bild: Stockfoto)