Keine weiße Weste

Nach der Aufdeckung der NS-Vergangenheit zahlreicher Gründungsfiguren der documenta sollten mögliche Tendenzen von Antisemitismus und Rassismus im Blick der Forschung sein.

Bei der Aufarbeitung der Documenta-Geschichte sollten auch Fragen zu Antisemitismus und Rassismus berücksichtigt werden

Das Fridericianum in Kassel. (Bild: H. Helmlechner, CC BY 2.5)

Die Gründungsriege der ersten Documenta im Jahr 1955 bestand zum großen Teil aus ehemaligen NSDAP-Mitgliedern. Das zeigen unter anderem aktuelle Forschungen der Kunsthistorikerin Mirl Redmann, deren Aufsatz „Das Flüstern der Fußnoten. Zu den NS-Biografien der documenta Gründer*innen“ gerade in der Reihe „documenta studien“ veröffentlicht wurde. Bis heute existiert der Mythos, die Gründung der bis heute bedeutendste Kunstausstellung in Kassel sei frei von Verbindungen zum Nazismus gewesen. Doch diese Erzählung wird nun, wissenschaftlich belegt, immer unglaubwürdiger.

Die Bilanz ist schockierend: Acht von insgesamt 21 Gründungsfiguren der ersten Documenta lassen sich, dem Artikel-Editorial von Nanne Buurman und Nora Sternfeld zufolge, inzwischen als NSDAP-Mitglieder identifizieren. Besonders konzentrieren sich Mirl Redmanns Untersuchungen auf den Kunsthistoriker Werner Haftmann, der von 1955-64 als wissenschaftlicher Berater der ersten Ausstellungen in Kassel wirkte. Haftmann und die übrigen Organisatoren bestimmten wesentlich die Ausrichtung der Kunstausstellung. Sie entschieden unter anderem über die Auswahl der Künstlerinnen und Künstler und die gezeigten Werke.

Es ergeben sich unzählige Fragen

Die Untersuchungen und Veröffentlichungen haben seit Ende 2019 eine Diskussion in der Wissenschaft und in den deutschen Feuilletons ausgelöst (beispielsweise hier, hier und hier). Es ergeben sich unzählige Fragen. Interessant wäre es vor allem zu wissen, welchen konkreten Einfluss die frühere Mitgliedschaft in der nationalsozialistischen Partei auf die Arbeit der Kuratoren hatte: Wurden beispielsweise bewusst ideologisch motivierte Leerstellen gelassen? Förderte man jene, deren Gesinnung vor dem Hintergrund früherer Zeiten einwandfrei schien? Welche Künstlerinnen und Künstler blieben unberücksichtigt, allein aufgrund ihrer Herkunft, religiösen und weltlichen Orientierung oder politischen Gesinnung – oder weil sie Jüdinnen und Juden waren?

Antisemitismus und Rassismus sollten im Blick der documenta-Forschung sein

Die Geschichte der Documenta müsse neu bewertet werden, bestätigte die Generaldirektorin der Documenta, Sabine Schormann, vor Kurzem in den Medien. Zur Aufarbeitung verwies sie auf das noch einzurichtende Documenta-Institut in Kassel. Wie und wann man sich dort mit der Nazi-Vergangenheit der Gründer beschäftigt, bleibt also noch abzuwarten.

Doch die Gründungsgeschichte der Documenta wissenschaftlich korrekt auf den Grund zu gehen, ist vor dem Hintergrund ihrer weltweiten Bedeutung wichtig. Nicht zuletzt mögliche Tendenzen von Antisemitismus und Rassismus unter den Kuratoren und Organisatoren der frühen Documenta-Ausstellungen sollten hier im Blick der Forschung sein.

Für die ehrliche Auseinandersetzung mit der Geschichte der Documenta, die immer sowohl bedeutende Kunstgeschichte als auch nordhessische Regionalgeschichte ist, wäre das ein mehr als wichtiger Baustein.